May Ayim

Gedenktafel am May-Ayim-Ufer

May Ayim (geboren als Brigitte Sylvia Andler am 3. Mai 1960 in Hamburg; † 9. August 1996 in Berlin) war eine deutsche Dichterin, Pädagogin und Aktivistin der afrodeutschen Bewegung.

Leben

Die Tochter des ghanaischen Medizinstudenten Emmanuel Ayim und der Deutschen Ursula Andler lebte in den ersten eineinhalb Jahren in einem Kinderheim in Hamburg-Barmbek-Uhlenhorst. Ihr Vater durfte sie nicht mit nach Ghana nehmen.[1] Anschließend wurde sie von der Familie Opitz adoptiert und wuchs bei dieser in Münster (Nordrhein-Westfalen) auf.[2] Ihre leibliche Mutter verweigerte zeitlebens jede Kontaktaufnahme, der leibliche Vater besuchte sie seit ihrer Kindheit mehrmals bei den Pflegeeltern. Ihre Kindheit beschrieb sie als bedrückend, von Angst und Gewalt geprägt. Die Pflegeeltern wollten sie mit Strenge zu einem Musterkind erziehen, das alle „rassistischen Vorurteile“ Lügen strafen würde. Sie lehnten ihr späteres Engagement in der „Black Community“ als Spätfolgen einer frühkindlichen Störung und krankhaften Drang, ihre Hautfarbe und afrodeutsche Identität zu bewältigen, ab.[1] 1979 legte sie das Abitur an der katholischen Friedensschule Münster ab.[3]

Später studierte sie an der Universität Regensburg Pädagogik und Psychologie und schloss 1986 mit Diplom ab. Während des Studiums reiste sie nach Kenia, wo ihr Vater mittlerweile als Medizinprofessor arbeitete, zu dem sie jedoch keine enge Beziehung mehr aufbauen konnte, und nach Ghana, das sie als ihr „Vaterland“ bezeichnete, obwohl sie sich dort fremd fühlte und als „Weiße“ angesehen wurde.[1] Ihre Diplomarbeit Afro-Deutsche: Ihre Kultur- und Sozialgeschichte auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen veröffentlichte sie – damals noch unter dem Namen May Opitz – in dem gemeinsam mit Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz herausgegebenen Band Farbe bekennen, der auch ins Englische übersetzt wurde.[2] Der eigentlich zuständige Regensburger Professor lehnte das Thema der Diplomarbeit laut Ayim mit der Begründung ab, „Rassismus gibt es im heutigen Deutschland nicht“. Stattdessen fand sie in Berlin eine Prüferin, die die Arbeit annahm.[1]

Audre Lorde und May Ayim am Winterfeldtplatz in Berlin-Schöneberg

Ab 1984 lebte sie in West-Berlin, in dessen multikultureller Umgebung sie sich weniger isoliert fühlte als in Münster oder Regensburg.[3] 1986 war Ayim Gründungsmitglied der Initiative Schwarze Deutsche und Schwarze in Deutschland. Sie knüpfte Kontakte zu Vertreterinnen der internationalen schwarzen Frauenbewegung wie zum Beispiel Audre Lorde.[4] 1987 begann sie eine staatlich anerkannte Ausbildung zur Logopädin. Ihre Examensarbeit von 1989 trägt den Titel Ethnozentrismus und Geschlechterrollenstereotype in der Logopädie. Eine kritische Betrachtung von Wort- und Bildmaterialien mit Verbesserungsvorschlägen für die logopädische Praxis. Anschließend arbeitete sie als freiberufliche Logopädin sowie von 1992 bis 1995 als Lehrbeauftragte an der Alice-Salomon-Fachhochschule, der Freien Universität Berlin und der Technischen Universität Berlin.[5]

Sie wehrte sich in Vorträgen und auch in ihren Gedichten gegen rassistische Diskriminierung, die sie in ihrem Alltag selbst erfuhr. So kritisierte sie insbesondere den beleidigenden Charakter von Bezeichnungen wie „Neger“, „Mischling“ oder „Besatzungskind“. In Farbe bekennen schrieb sie: „Ich wuchs mit dem Gefühl auf, das in ihnen steckte: beweisen zu müssen, dass ein ‚Mischling‘, ein ‚Neger‘, ein ‚Heimkind‘ ein vollwertiger Mensch ist.“[6] Die deutsche Wiedervereinigung, die sie als „Sch-Einheit“ bezeichnete, erlebte Ayim als überschattet von zunehmendem Nationalismus und Gewalt gegen Minderheiten.[1] Im Gedicht deutschland im herbst (1992) zog sie eine Verbindung von der „Kristallnacht“ im November 1938 zum tödlichen Überfall auf Amadeu Antonio im November 1990 und schloss mit den Worten „mir graut vor dem winter“. Ab 1992 publizierte sie unter dem Namen May Ayim. 1995 veröffentlichte sie die Gedichtsammlung blues in schwarz weiss.[2] Darin wurde ihr Gedicht exotik aufgenommen, das sie bereits 1985 verfasst hatte und das die Verbindung ihrer Lebenserfahrungen mit ihrem künstlerischen Schaffen zu erkennen gibt:

„nachdem sie mich erst anschwärzten
zogen sie mich dann durch den kakao
um mir schließlich weiß machen zu wollen
es sei vollkommen unangebracht
– schwarz zu sehen“

May Ayim: exotik (1985)[7]

Ayim schrieb jedoch nicht nur politische und sozialkritische, sondern auch Liebeslyrik.[1]

May Ayim gilt als eine der Pionierinnen der kritischen Weißseinsforschung in Deutschland:

„Die christlich-abendländische Farbsymbolik brachte die Farbe Schwarz von jeher mit dem Verwerflichen und Unerwünschten in Verbindung. Entsprechend sind in der frühen Literatur Beispiele zu finden, wo weiße Menschen durch unrechtmäßiges Verhalten zu ‚Mohren‘ werden. Im Kirchenvokabular des Mittelalters wurden in markanter Weise die Bezeichnungen ‚Aethiops‘ und ‚Aegyptius‘ zeitweise als Synonyme für den Begriff Teufel benutzt. Religiös bestimmte Vorurteile und Diskriminierungen bildeten so einen Teil des Fundamentes, auf dem sich in der Kolonialzeit mühelos ein Konglomerat rassistischer Überzeugungen entfalten konnte, welches die Schwarzen zu Untermenschen (Negern) werden ließ.“

May Ayim (1997)[8]

May Ayim erlitt nach Wochen wachsender Arbeitsbelastung und emotionaler Anspannung Anfang 1996 eine psychotische Krise. Sie verbrachte zwei Aufenthalte in einer psychiatrischen Klinik, wo ihr der Verdacht auf Multiple Sklerose mitgeteilt wurde. Am 9. August 1996 starb sie durch Suizid.[1] Bestattet wurde May Ayim auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg.

Rezeption und Ehrungen

May Ayim wurde in die Anthologie Daughters of Africa aufgenommen, die 1992 von Margaret Busby in London und New York herausgegeben wurde.

1997 wurde sie von Maria Binder in dem Film Hoffnung im Herz porträtiert. Der Reggae-Musiker Linton Kwesi Johnson widmete ihr 1998 das Lied Reggae fi May Ayim. 2004 verliehen Afrotak TV cyberNomads (in Kooperation mit der deutschen Sektion der UNESCO, dem Haus der Kulturen der Welt und dem Macht der Nacht-Team) den May Ayim Award, den „ersten Schwarzen Deutschen Internationalen Panafrikanischen Literaturpreis.“ Preisträger waren Mario Curvello (Epik), Olumide Popoola (Lyrik) und MC Santana (Multimedia).

Am 27. Mai 2009 beschloss in Berlin die Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg, das nach dem preußischen[9] Generalleutnant Otto Friedrich von der Groeben, Gründer der brandenburgischen Sklavenfestung und Kolonie Groß Friedrichsburg in Westafrika (heute Ghana), benannte Gröbenufer in May-Ayim-Ufer umzubenennen.[10] Am 27. Februar 2010 wurden die Straßenschilder aufgestellt.

Google Deutschland ehrte Ayim am 27. Februar 2018 mit einem eigenen Doodle.[11]

Am 17. März 2022 wurde auf dem neuen Schulcampus ihrer alten Schule in Münster, der Friedensschule, der May-Ayim-Platz eingeweiht.[12] Am 27. Juli 2022 beschloss der Stuttgarter Gemeinderat einen Platz im Stadtteil West nach ihr zu benennen.[13]

2023 feierte das Stück blues in schwarz weiss am Münchner Residenztheater Premiere. Die Regisseurin Miriam Ibrahim hat es gemeinsam mit der Autorin Julienne De Muirier auf der Basis von May Ayims Gedichten, Briefen und Essays entwickelt.[14]

Werke

Sachbücher

  • Katharina Oguntoye, May Opitz/Ayim, Dagmar Schultz: Farbe Bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Orlanda Frauenverlag, Berlin 1986, ISBN 3-922166-21-0. 5. Auflage. Orlanda Buchverlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-944666-20-4.
  • May Ayim: grenzenlos und unverschämt. Orlanda Frauenverlag, Berlin 1997, ISBN 3-929823-45-4 (Sammlung von Aufsätzen, Interviews und Reden). 2. Auflage. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-15190-2; Grenzenlos und unverschämt. Neuauflage mit einem aktuellen Vorwort von Josephine Apraku, Unrast, Münster 2021, ISBN 978-3-89771-286-7.
  • Ika Hügel-Marshall, Chris Lange, May Ayim, Ilona Bubeck, Gülsen Aktas, Dagmar Schultz (Hrsg.): Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung. Orlanda Verlag, Berlin 1999, ISBN 3-922166-91-1.

Gedichtbände

  • May Ayim: blues in schwarz weiss. Orlanda Frauenverlag, Berlin 1995, ISBN 3-929823-23-3. 4. Auflage. Orlanda Frauenverlag, Berlin 2005, ISBN 3-936937-27-3.
  • May Ayim: nacht gesang. Orlanda Frauenverlag, Berlin 1997, ISBN 3-929823-39-X.
  • May Ayim: blues in schwarz weiss & nachtgesang. Unrast, Münster 2021, ISBN 978-3-89771-613-1 (Neuauflage beider Gedichtbände in einem Taschenbuch, mit einem Vorwort von Olumide Popoola).

Verschiedenes

  • May Ayim, Bahman Nirumand, José F. A. Oliver, Hasan Özdemir, Dadi Sideri: … aus dem Inneren der Sprache. Internationales Kulturwerk, 1995, ISBN 3-910069-56-8.
  • May Ayim Award 1. Schwarzer Deutscher Internationaler Literatur Award, Peggy Piesche, Michael Küppers-Adebisi u. a. (Hrsg.), Buch und Multimedia-CD. Orlanda Verlag cyberNomads, Berlin, ISBN 3-936937-21-4.

Werkvertonungen

  • 2002: Marc Pendzich: Nachtgesang – 9 Stücke über Gedichte von May Ayim für eine Frauenstimme, Oboe, Percussion, Violoncello und Kontrabass.
  • 2013: Oxana Chi, Layla Zami: I Step on Air. Tanz-Musik-Performance
  • 2017: Marc Pendzich feat. Danny Merz: Nachtgesang – Eine Hommage an May Ayim. Musikalbum bei vadaboéMusic

Literatur

  • Ika Hügel-Marshall, Nivedita Prasad, Dagmar Schultz (Hrsg.): May Ayim. Radikale Dichterin, sanfte Rebellin. Unrast Verlag, Münster 2021, ISBN 978-3-89771-094-8 (Anthologie mit Texten verschiedener Autorinnen und mit unveröffentlichten Gedichten und Texten von May Ayim).
  • Natasha A. Kelly (Hrsg.): Sisters and Souls 2. Inspirationen durch May Ayim. Orlanda Verlag, Berlin 2021 (Texte verschiedener Autorinnen sowie bislang unveröffentlichte Texte von May Ayim).
  • Sarah Colvin: May Ayim and Subversive Laughter: The Aesthetics of Epistemic Change. In: German Studies Review. Jg. 45 (2022), Heft 1, ISSN 0149-7952, S. 81–103, doi:10.1353/gsr.2022.0005.

Weblinks

Commons: May Ayim – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
  • Literatur von und über May Ayim im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
  • May Ayim Archiv, Bibliothek der Freien Universität Berlin: https://archiv.fu-berlin.de/home/#/content/70be7685f955423f9d6548c35d27a4f4
  • Margaret MacCarroll: May Ayim: A woman in the Margin of German Society. (Masterarbeit an der Florida State University; PDF; 464 kB), abgerufen am 24. Dezember 2016.
  • May Ayim Award – The 1st International Black German Literature Award Online/ 1. Internationaler Schwarzer Deutscher Literature Award in Erinnerung an den Kampf gegen den Sklavenhandel und seine Abschaffung. Pressemitteilung von UNESCO Deutschland & AFROTAK TV cyberNomads, 19. April 2004
  • Tiffany Florvil: Remembering Afro-German Intellectual May Ayim. Artikel vom 7. September 2017 im Portal The Weekly Challenger
  • May Ayim im Digitalen Deutschen Frauenarchiv mit Biographie, Zitaten und Auswahlbibliographie
  • Vorträge von May Ayim im Deutschlandfunk Nova Hörsaal, Sendung vom 7. August 2021 anlässlich ihres 25. Todestages
  • Video vom Deutschen Institut für Menschenrechte: May Ayim - Lesung und Gespräch, abgerufen am 3. November 2021

Einzelnachweise

  1. a b c d e f g Silke Mertins: Was sollen die letzten Worte sein. In: taz. die tageszeitung. 23. Dezember 1997, S. 23; Silke Mertins: Blues in Schwarz Weiß: May Ayim (1960–1996). In: May Ayim: Grenzenlos und Unverschämt. Unrast, Münster 2021, S. 156–170.
  2. a b c May Ayim, Goethe-Institut.
  3. a b Clara Ervedosa: Das May-Ayim-Ufer in Berlin. In: Jürgen Zimmerer: Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2013, S. 424–441, auf S. 429.
  4. Katharina Oguntoye, May Ayim/Opitz, Dagmar Schultz: Farbe Bekennen: Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Orlanda Frauenverlag, Berlin 2006, S. 5: „Der Anfang war die gemeinsame Initiative von Audre Lorde.“ S. 18: „Mit Audre Lorde entwickelten wir den Begriff ‚afro-deutsch‘ in Anlehnung an afro-amerikanisch.“
  5. May Ayim, Digitales Deutsches Frauenarchiv.
  6. Farbe Bekennen. 2006, S. 207.
  7. May Ayim: Blues in schwarz weiss. Gedichte. 4. Auflage. Orlanda-Frauenverlag, Berlin 2005, ISBN 3-936937-27-3 (Zitiert nach Ecoleusti). 
  8. May Ayim: Die afro-deutsche Minderheit. In: Susan Arndt (Hrsg.): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland. 2001, ISBN 3-89771-407-8, S. 71–86.
  9. militär 13. Abgerufen am 27. Februar 2018. 
  10. Gröbenufer wird zu May-Ayim-Ufer. In: Neues Deutschland. 29. Mai 2009, abgerufen am 11. März 2024.
  11. Google Doodle heute: Wer war May Ayim? In: Augsburger Allgemeine. 27. Februar 2018, abgerufen am 11. März 2024.
  12. Einweihung des May-Ayim-Platzes. Homepage der Friedensschule Münster 18. März 2022.
  13. Protokoll Verwaltungsausschuss des Gemeinderats der Landeshauptstadt Stuttgart, Drucksache: 484/2022.
  14. Blues in Schwarz Weiss. In: Residenztheater München. 2023, abgerufen am 19. Juni 2023. 
Normdaten (Person): GND: 115413391 (lobid, OGND, AKS) | LCCN: n96029467 | VIAF: 29842981 | Wikipedia-Personensuche
Personendaten
NAME Ayim, May
ALTERNATIVNAMEN Opitz, Sylvia Brigitte Gertrud (wirklicher Name); Andler, Sylvia (Geburtsname)
KURZBESCHREIBUNG deutsche Dichterin, Pädagogin und Aktivistin der afrodeutschen Bewegung
GEBURTSDATUM 3. Mai 1960
GEBURTSORT Hamburg
STERBEDATUM 9. August 1996
STERBEORT Berlin